Das Projekt NENALAWEI wurde planmäßig zum 31.12.2022 beendet!

„Erzähl doch mal …!“

Frauen aus aller Welt haben die Möglichkeit, eine Geschichte aus ihrem Leben zu erzählen. Unter dem Titel „Erzähl doch mal …!“ bietet das Frauenprojekt „NeNa LaWei“ – Neue Nachbarinnen Landsberg Weilheim eine Plattform dafür.

Jede Frau hat besondere Geschichten erlebt– in der Kindheit und im Jugendalter, in der Schule und Freizeit, in der Familie und in ihrem Land, in der Liebe und auf Reisen. Möchtest Du eine Geschichte erzählen? Egal, ob Du schon eine Geschichte im Kopf hast oder noch nicht genau weißt, was Du erzählen möchtest.

Bei „NeNa LaWei“ kannst Du Dich mit Frauen und Geschichten aus dem eigenen Leben austauschen und neu entdecken. Mitmachen können Frauen ab 16 Jahre aus allen Herkunftsländern.

Nähere Informationen gibt es bei: „NeNa LaWei“, Miriam Schäfer,
Tel. 0151 54142574, miriam.schaefer@herzogsaegmuehle.de

 


 

Steckbrief
Name: Fateme
Wohnort: Schongau
Seit 2015 in Deutschland
Im Jahr 2000 im Iran geboren, aus Afghanistan geflohen

Auf der Suche nach Heimat

Fateme - Auf der Suche nach Heimat

 

Ich bin zwar im Iran geboren und habe dort bis zu meinem 15. Lebensjahr gelebt, doch Iranerin war ich nie. Meine Eltern kommen ursprünglich aus Afghanistan. Sie, meine vier Geschwister und ich haben deshalb einen afghanischen Pass. Diese Tatsache hat unser Leben im Iran in vielerlei Hinsicht erschwert. Wir wurden nicht vollkommen in der Gesellschaft akzeptiert und mussten vor allem für Bildung viel Geld bezahlen. Auch wenn wir durch den Beruf meines Vaters nicht arm waren, konnten wir uns das nicht leisten. Mein Vater wollte aber all seinen Kindern eine Ausbildung ermöglichen und so zogen wir zurück in sein Heimatland, nach Afghanistan.

Dort lebten wir in einem kleinen Dorf, etwa eine Stunde von der Hauptstadt Kabul entfernt. Die Hoffnung, hier ein besseres Leben führen zu können erlosch schnell, denn es herrschte Krieg. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt, die Geschehnisse waren unbegreiflich für uns. Niemand konnte zur Schule gehen und wir verbrachten die meiste Zeit im Haus. Als meine zwei älteren Brüder einmal unseren Großvater besuchen wollten, wurden sie während der Busfahrt von den Taliban angegriffen.

Einen Tag lang hörten wir nichts von ihnen, wussten nicht, ob sie überlebt haben oder von der islamistischen Terrorgruppe getötet wurden. Später erfuhren wir, dass sie fliehen konnten. Einer meiner Brüder wurde dabei am Knie verletzt. Meine Mutter hat nur noch geweint und gesagt, dass sie nicht mehr in  Afghanistan bleiben will. Nach acht Monaten sind wir wieder zurück in den Iran, doch dort durften wir nicht mehr sein, weil wir das Land ja zuvor verlassen hatten. Wir waren ratlos, standen vor dem Nichts und hatten keinen Ort mehr zu Leben. Also entschieden meine Eltern, mit uns nach Europa zu gehen.

Die Flucht begann in Teheran, der Hauptstadt Irans. Insgesamt 21 Personen versteckten sich in dem kleinen Auto, das uns an die türkische Grenze bringen sollte. Wir lagen alle aufeinander. Um unbemerkt zu bleiben, lag eine dicke Plastikplane auf uns. Ich konnte darunter nicht atmen. Immer wieder rang ich nach Luft. Ich war fast tot, bis mein Vater schließlich die Plane aufriss. Nach zwei Stunden Fahrt erreichten wir einen Berg, den wir so schnell wie möglich erklimmen mussten. Die Polizei durfte uns nicht entdecken. Ich war so erschöpft und schwach von der Atemnot während der Autofahrt, mein Bruder war durch seine Knieverletzung stark eingeschränkt und meine fünfjährige Schwester konnte den Berg nicht ohne Hilfe besteigen. Es war so schwer. Meine Füße waren blutig, es war dunkel und wir hatten nichts zu Trinken. Einmal fing mein Vater an zu weinen und sagte zu mir: „Wenn ich gewusst hätte, was auf dem Weg nach Europa mit meinen Kindern geschieht, hätte ich diese Entscheidung nicht getroffen.“ Nach fünf Stunden erreichten wir den Gipfel und konnten über die Grenze in die Türkei. Nun ging es wieder zwei Stunden bergab. Nach einer Weile sank mein Vater zu Boden. Er konnte nicht mehr. „Geht ihr weiter“, sagte er. „Aber das geht nicht, wir sind doch eine Familie“, sagte ich. Gerade als die Angst, meinen Vater nicht umstimmen zu können, immer weiter in mir aufstieg, tauchte jemand mit einem Pferd auf. Wir nutzten es abwechselnd, wenn einem von uns die Kraft ausging.

Der Fluchtbegleiter hatte eine Wohnung für uns organisiert, in der wir uns zwei Tage verstecken konnten. Ohne Essen und ohne Trinken. Schließlich bekamen wir die Erlaubnis, nach Istanbul zu gehen, wo wir in einem Raum mit 30 Personen untergebracht waren. Auch hier mussten wir uns vor der Polizei verstecken. Nach drei Tagen fuhren wir ans Meer. Das Boot war nur sechs Meter lang, doch 43 Personen befanden sich darauf. In diesem Jahr 2015 sind viele Menschen auf ihrer Flucht ertrunken. Wir dachten, dass uns nun das Gleiche widerfahren wird.

Nach eineinhalb Stunden erreichten wir die griechische Insel Lesbos. Zwei Tage hat es gedauert, bis wir dort an der zuständigen Polizeistation ankamen. Sie sollte uns ein Papier ausstellen, das uns erlaubt, nach Athen zu reisen. Wir haben sehr gefroren, weil wir nur die Kleidung dabeihatten, die wir am Körper trugen. Eine Nacht mussten wir auf der Straße schlafen. Es war so nass und kalt. Wir wussten nicht mehr, ob wir noch lebten, oder schon tot waren. Am nächsten Tag fanden wir die Polizeistelle, an der sich viele Geflüchtete sammelten. 13 Tage haben wir dort in einem Zelt verbracht, bis wir das Papier mit der Erlaubnis bekamen. Die Schifffahrt nach Athen dauerte einen Tag. Nach zwei Tagen Aufenthalt sind wir mit dem Zug nach Serbien gefahren. In dieser Zeit waren alle Grenzen ab Griechenland offen. Meine Familie und ich wussten das allerdings noch nicht. Also sind wir zu Fuß von Serbien nach Ungarn durch den Wald. Dort hat uns die Polizei gefunden. Wir befürchteten, dass sie uns wieder zurück nach Griechenland schicken wollten. Doch wir durften weitergehen. Ab diesem Moment hatten wir keine Angst mehr vor der Polizei. Sie fuhren uns in ein Camp, in dem rund 2.000 Menschen untergebracht waren. Nach zwei Tagen konnten wir mit dem Zug nach Österreich fahren. Dort hat sich die Polizei um unsere Weiterreise nach München gekümmert.

Schon damals mit 15 Jahren habe ich verstanden, warum wir geflüchtet sind. Denn wenn ein Kind solche schlimmen Sachen sieht, wird es schneller erwachsen. Heute kann ich weder den Iran, noch Afghanistan oder Deutschland als mein Heimatland bezeichnen. Überall werde ich als Ausländerin angesehen. Aber meine Eltern haben mal gesagt, Heimat ist dort, wo unsere Kinder in Frieden leben können.


 

Steckbrief
Name: Joy
Wohnort: Landkreis Weilheim-Schongau

Seit Dezember 2015 in Deutschland
Im Jahr 1995 in Nigeria geboren

Von Hoffnung geleitet

Joy - Von Hoffnung geleitet

 

Wenn man nicht aus einer wohlhabenden Familie stammt, hat man in Nigeria keine Chance auf ein gutes Leben. Der einzige Weg raus aus der Armut ist Bildung. Da man für Bildung jedoch zahlen muss, haben nur wenige Kinder in Nigeria dieses Privileg. Ich bin für acht Jahre in die Schule gegangen, doch konnte diese leider nicht beenden, da meine Familie es sich nicht mehr leisten konnte. Vor mir lag also eine Zukunft ohne Perspektive.

Als ich 21 Jahre alt war, bot mir eine Bekannte, die Klamotten verkaufte, einen Job an. Sie sagte, sie habe ein Geschäft in Spanien, indem ich arbeiten könne. Ich war begeistert. Nach so vielen Jahren der Verzweiflung verspürte ich zum ersten Mal Hoffnung. Schnell kam ich jedoch wieder ins Grübeln: Wie sollte ich Pass, Visum und Flug bezahlen? Doch sie versicherte mir, dass sie sich um alles kümmere.

Unsere Reise nach Spanien startete nicht am Flughafen. Mit dem Bus überquerten wir die Grenze zum Niger. Es folgten weitere Fahrten in Bussen und Autos. Ich fragte die Frau, wo mein Pass und Visum sind und warum wir nicht wie geplant, nach Spanien fliegen. Sie antwortete, dass ich mich noch ein wenig gedulden sollte und wir bald am Flughafen ankommen würden. Mit jedem Tag, der verging, wurde das ungute Gefühl in mir größer und größer. Ich hatte komplett den Überblick verloren, wusste nicht mehr, wie lange wir bereits unterwegs waren oder in welchem Land wir uns gerade befanden. Doch der Gedanke an ein besseres Leben in Spanien gab mir immer wieder neue Kraft und Hoffnung.

In Marokko geschah dann alles ganz plötzlich. Die Frau übergab mich an eine Familie, bekam dafür Geld und verschwand. Erst jetzt wurde es mir klar: Ich wurde Opfer von Menschenhandel. Völlig hilflos und verloren, hielten sie mich erst für einige Tage im Haus fest. Dann befahlen sie mir, mit einem Boot für Flüchtlinge über das Meer nach Spanien zu fahren. Allein der Gedanke daran, löste Panik in mir aus. Ich hatte schon viele schlimme Geschichten über diese Überfahrten gehört. Jedoch hatte ich keine andere Wahl und so saß ich mit 27 anderen Menschen in einem kleinen Boot von Marokko nach Spanien. Isaac *, der neben mir saß, erzählte mir, dass er nach Deutschland zu seinem Bruder flüchtete und bot mir an, mit ihm zu kommen. Ich lehnte ab, da ich von der Familie aufgetragen bekommen hatte, in das Flüchtlingslager in Spanien zu gehen. Dort angekommen, erhielt ich einen Anruf, in dem mir ein Mitglied der Familie den Plan erklärte: Ich soll in Spanien als Prostituierte arbeiten und ihnen das Geld davon zuschicken, so lange bis sie 20.000 Euro haben. Morgen würde mich jemand vom Camp abholen. Falls ich mich weigere, würden mir schlimme Dinge passieren.

Ich folgte meinem ersten Impuls und rief sofort Isaac an. Er sagte zu mir, ich muss noch heute raus aus dem Lager und mit dem Zug nach Deutschland kommen. Doch wie sollte ich das schaffen, ganz ohne Geld? Ich fing an, durch das Flüchtlingslager zu laufen und den Leuten von meiner Geschichte zu erzählen. Obwohl sie selbst so wenig hatten, unterstützten sie mich, sodass ich mir von diesem Geld eine Fahrkarte nach Frankreich kaufen konnte. Meine Dankbarkeit diesen Menschen gegenüber war und ist bis heute unbeschreiblich. In Frankreich sprach ich Menschen auf der Straße an. Sie gaben mir Essen und Geld. Auch ihnen bin ich unglaublich dankbar. Mit so viel Verständnis und Mitgefühl hatte ich nicht gerechnet. Manche boten mir sogar an, dass ich erstmal mit zu ihnen kommen kann, doch das wollte ich nicht. Ich hatte aufgehört, irgendjemandem zu glauben. Ich dachte mir, du hast einer Frau geglaubt und schau mal, wohin das geführt hat.

Nach nur einem Tag hatte ich genug Geld zusammen, um mir ein Zugticket nach Deutschland zu kaufen. Die Frau aus Nigeria kontaktierte mich noch ein letztes Mal und sagte, dass ich all ihr verlorenes Geld zurückzahlen muss, wenn ich nach Nigeria zurückkomme. Ich betete jeden Tag dafür, dass ich nicht abgeschoben werde. Einige Monate später wurden diese Gebete erhört.

* Namen wurden geändert

 


 

„Ich bekomme ein Pferd!“ – Mein schönstes Erlebnis

Ich bin Annette Kurth und werde im Dezember 60 Jahre alt. Gerne schaue ich im Alter auf meine Kindheit zurück. Dabei erinnere ich mich immer wieder an den Tag, an dem ich ein Pferd bekam. Das war mein schönstes Erlebnis.

Meine Eltern hatten einen Bauernhof und so bin ich mit Tieren – Hunde, Katzen, Kühe, Schweine, Ziegen, Kaninchen – groß geworden. Mein liebstes Tier gab es leider nicht mehr auf unserem Hof, ein Pferd. Deshalb wünschte ich mir schon als kleines Mädchen nichts sehnlichster als ein eigenes Pferd.

Meine Eltern hatten gegenüber diesem Wunsch ihre Bedenken. Sie sagten: „Um ein Pferd muss man sich jeden Tag kümmern. Auf einmal interessiert es Dich nicht mehr und dann steht das Tier den ganzen Tag im Stall herum.“

Diese Bedenken konnten mich nicht von meinem Wunsch abbringen. Als ich in die Schule kam, machte ich mit meinen Eltern einen Deal: „Ich arbeite in den großen Ferien jeden Tag auf dem Bauernhof für 50 Pfennig (das sind heute 25 Cent) die Stunde und verdiene mir damit mein Pferd selbst!“

Dieses Angebot nahmen meine Eltern gerne an, denn sie waren gespannt, ob ich das durchhalten würde. Vom ersten Ferientag an arbeitete ich von morgens 5:30 Uhr bis abends 18:00 Uhr auf dem Bauernhof. Da gab es viel zu tun: Kühe melken, Futter für die Tiere holen und bei der Ernte helfen. Das machte ich fünf Wochen an sieben Tage in der Woche. Manchmal war ich so müde, dass ich schon um 20.00 Uhr im Bett lag.

An einem Abend – ich fütterte gerade meine Kaninchen – riefen mich meine Eltern. Sie standen Arm in Arm vor mir und wollten mir etwas sagen. Das brauchten sie gar nicht mehr, denn ich wusste: „Jetzt bekomme ich ein Pferd!“ Vor Freude liefen mir die Tränen herunter. Ich nahm meine Eltern in den Arm und schon am nächsten Tag ging es auf zum Pferdemarkt.

Ich bekam ein Kleinpferd, namens Heidi. Heidi war ein Wildpferd und kam aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie war ganz abgemagert und verängstigt. Jede freie Minute verbrachte ich mit dem Pferd. Langsam aber sicher wurde Heidi zutraulich. Aber sie wurde auch immer dicker.

Mein Vater fragte mich: „Gibst Du dem Pferd zu viel Futter?“ Nein, das machte ich nicht! Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass Heidi noch in der Wildbahn von einem Hengst gedeckt worden war. Nach ein paar Monaten kam ein kleines Hengstfohlen, Bacchus, auf die Welt. Damit hatte ich gleich zwei eigene Pferde.

In der kalten Jahreszeit nahm mein Vater sich die Zeit für mich. Er baute mit mir eine Kutsche für den Sommer und einen Pferde-Schlitten für den Winter. Immer sonntags wurden Heidi und Bacchus angespannt. Das war lustig und oft flogen die Fetzen, denn Heidi und Bacchus hatten sehr viel Kraft und konnten Kutsche und Schlitten im vollen Galopp ziehen. Für mich waren das wunderschöne Erlebnisse.

Später bekam ich ein großes Pferd, das ich Majo nannte und selbst einreiten konnte. Mit Majo zog ich auf Turniere. Springreiten natürlich, denn bei mir musste alles im Galopp gehen. Das ist heute manchmal auch noch so, nur leider ohne Pferd.